Diogenes-Verleger: „Einen normalen Tag gibt es nicht“ - WELT (2024)

Philipp Keel führt mindestens drei Leben gleichzeitig – als Chef von Diogenes, des größten unabhängigen Literaturverlags in Europa, als gefragter Künstler und als Vater. Wie geht das? Begegnung mit einem Mann, der sich manchmal vorkommt wie ein Loser.

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Gestern war kein guter Tag, sagt Philipp Keel. Da ist er in Berlin angekommen. Und hat sich die Sinnfrage gestellt. Warum er das hier überhaupt macht? Für wen? Warum ihm all diese Leute helfen? Bilder aufzuhängen, in diesem Fall.

Kisten stehen da in der Galerie von Grisebach. Es riecht dezent nach Ölfarbe. „Coincidences“ heißt Keels Ausstellung. Ein paar Zeichnungen hängen schon, Gemälde, Fotografien. Fingerübungen auf Kaffeetassenuntersetzerpapier, schlanke Palmen in Pastell, die sich dem Horizont entgegenziehen.

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Ein nächtlicher Pool in der Wüste, ein Krokodil begegnet zwei Flamingos, Strandszenen, der verwackelte nächtliche Eiffelturm, eine Schöne im Grün. Immer wieder Palmzweige. Das Foto einer magisch leuchtenden Tasse grüner Tee lehnt am Boden an der Wand.

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Wir sind in der Berliner Fasanenstraße. Sozusagen auf der anderen Seite der Demarkationslinie zwischen den Welten des Philipp Keel. Eine Hausnummer weiter vorn, wenn man vom Kudamm kommt, steht das Berliner Literaturhaus. Philipp Keel ist, wenn er nicht gerade Künstler ist (und Autor, Filmproduzent und Vater zweier Söhne), vor allem der Verleger des größten unabhängigen Literaturverlags in Europa. Von Diogenes in Zürich. Seit elf Jahren macht er das.

Dass er mal Verleger werden würde, war nicht vorgesehen und eigentlich doch. Der Vater hat seine beiden Söhne streng zur Freiheit erzogen. Als er dann aber starb, war die Nachfolge nicht wirklich geregelt. Philipp Keel, der gut 17 Jahre in Los Angeles war, Millionen mit Fragebüchern verdient hatte, sich als Künstler und Autor etabliert hatte, zog aus der Stadt mit den Palmen und dem seltsamen Licht zurück in die Schweiz – und übernahm.

Diogenes-Verleger: „Einen normalen Tag gibt es nicht“ - WELT (2)

Aus Verantwortung dem Verlag, den Menschen gegenüber, den Autoren. Und weil er so derart mit der Verlegerei aufgewachsen, in sie hineingewachsen war, dass er es auch nicht nicht machen konnte. Das Diogenes-Ding.

Keel ist eigentlich ein Diogenes-Buch. Er erzählt süffig. Den Geschichten hört man gern stundenlang zu, während um einen herum immer irgendwas los ist. Wie er einmal bei einem Unfall fast gestorben wäre, acht war er da, und wieder alles lernen musste, das Laufen, das Hören.

Wie er einmal sein Internat in Gruyère schmiss, um nach Montreux zum Jazzfest zu fahren und David Sanborn zu treffen. Wie er mit seinem absoluten Gehör, der Keith Jarretts Köln-Konzert pfeifen kann, beinahe Jazzpianist geworden wäre an der Berklee School, aber es nicht wurde, weil ihm die Ungeduld dazwischenkam und seine ausgeprägte Desinteresse fürs Technische.

Wie beim Zahnarzt

Es steht immer ein Lächeln in seinem Gesicht. Das will da gar nicht weggehen. Erst hinterher, beim Abhören des Tonbands, merkt man die Melancholie, die alle Geschichten grundiert. Gegen die seine Bilder irgendwie anstrahlen.

So etwas wie einen irgendwie normalen, einen geregelten Tag kennt er nicht. So ist er nicht. Wäre aber gern, sagt er, „wie andere, auch sinnliche, musische Menschen – richtig strukturiert. Das Einzige, was bei mir strukturiert ist am Tag, ist, dass ich ein Müsli esse jeden Morgen. Und meine Vitamine daliegen wie im Altersheim und ich irgendeinen Tee trinke mit Ingwer.“

Und dann fährt er in den Verlag. Termine hat er, hasst er aber zu haben. Wie beim Zahnarzt komme er sich manchmal vor, sagt er. Einer nach dem andern steht vor seiner Tür.

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Dass er ein Team führen kann, entscheiden kann, obwohl er eigentlich ungern entscheidet, dass er Nein sagen kann („Nein ist das Hauptwort für einen Verleger“ – Philipp Keel), wusste er eigentlich schon lange. Schon in der Schule, er war der schlechteste Schüler, aber Klassensprecher, konnte er seine Kumpel überreden, begeistern. „Auch als Kind auf dem Bauernhof, wo wir so halbwegs auch aufgewachsen sind, hatte ich unterwegs mit den Nachbarskindern, beim Zeltaufstellen, beim Indianerspielen immer diese Regierolle. Das ist nie weggegangen.“

Und dann liest er mitten im Gewusel Manuskripte (auf Papier). Manchmal fünf, zehn, fünfzehn Seiten. Wenn sie gut sind. Manchmal ist schon nach einer Seite Schluss. Er ist ein neugieriger (sein Segen und sein Fluch), aber ungeduldiger Verleger.

Wann immer er kann, „verduftet“ er. Ins Atelier. Das ist eine Viertelstunde weg vom Verlag. Keel fährt wie sein Bestsellerautor Martin Suter ein Elektroauto, einen gar nicht nachhaltigen Jaguar hat er allerdings auch noch. Das Atelier ist ein Luxus, ein Urwunsch (Platz haben) und eine Konsequenz aus seiner „meschuggenen Kindheit“ in einem gar nicht großen Haus.

Kreativität wie eine Lawine

Zwischen seiner herumflitzenden Mutter, die (15.000 Werke) malte und zwischendurch Ian McEwan am Telefon für Diogenes begeisterte. Und dem Vater, der nicht weniger herumflitzte und Woody Allen am Telefon hatte. Dann kamen all die Verrückten noch nach Hause. Fellini, Highsmith. Paul Flora, der Zeichner, soll mal einen Schinken mitgebracht haben, den er direkt auf dem Wohnzimmerfußboden der Keels anschneiden wollte. Das alles wollte Philipp Keel nicht für seine Kinder. Die wollte er schützen. In seinem Haus, sagt er, „sind die Kinder das Drama, nicht wir“.

Zurück zum Verduften. Wir stehen vor einer Zeichnung. „Artist Dilemma 2023“ heißt sie. Sie hängt ziemlich zentral. Sie zeigt den zentralen Zwiespalt des Philipp Keel. Man könnte sie auch aktuell und politisch deuten. Ein Mann (schwarz-weiß) zielt auf einen schlanken orangenen Pinsel. Es sieht nach Exekution aus, ist aber ein Bild von Keels Angst vor dem leeren weißen Papier. Mit dem Verduften ist es ja nicht getan. Man macht ja nicht die Tür zum Atelier auf und die Kreativität überfällt einen wie eine Lawine.

Philip Keel sitzt dann da. Hat eigentlich alles, was er braucht, Tuben mit Farben, Leinwände, Regale mit Blöcken, Archivschubladen, mit gesammelten Papieren, Fragmenten, Zeitungen, lustigen Speisekarten, die er mal mitgenommen hatte, weil er damit irgendwann mal eine Collage machen wollte, Kisten voller sündhaft teurer Aquarellfarben. Und sitzt da vor einem Tisch für Aquarell und einem zum Zeichnen, zwischen Wänden und Staffeleien für Keilrahmen in jeder Größe. Und sitzt da und schaut seine Topfpflanze an und wartet auf ein Wunder.

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„Das ist furchtbar. Nach acht, neun Stunden im Verlag will ich lieber auf der Couch liegen und Jazz hören, an die Decke gucken.“ Er sei, das würde ihm ja keiner glauben, „eigentlich ein furchtbar fauler Mensch. Und eher lateinisch, gar nicht schweizerisch.“

Und so nimmt er ein, zwei Espressi oder „noch etwas Schlimmeres“. Und dann geht’s los. „Manchmal lass ich’s zu, dass ich einfach vergammele im Studio. Dass ich da nachts um eins nach Hause düse und denke, was bist du für ein Loser.“

Ein Raum von „Coincidences“ ist inzwischen so wie er sein soll. Aber irgendwie sitzen wir hier ständig im Weg herum. Das Telefon klingelt. Das Mittagessen haben wir sausen lassen. Keels Handy gibt schnarrende Geräusch von sich. Der Kurator mit der grünen Kappe, der bei der Hängung hilft, wirkt ein bisschen genervt. Wir wechseln nach nebenan, in die Villa Grisebach. Da sitzt man bequem zwischen Bildern, die da schon ewig an der Wand zu sein scheinen.

„Mach es einfacher“

Was da in „Coincidences“ zu sehen ist, sagt Keel, stammt überwiegend aus dem vergangenen Jahr. 300 Werke sind da entstanden. Keel hatte Ende 2021 Corona. Eine Woche nur, dann blieb der Husten und der Schnupfen und eine bleierne Müdigkeit über vier Monate. Schlaflose Nächte. Im Verlag war er trotzdem und im Atelier auch. Seine Laune aber war… Das will er nicht sagen. Dann war das Verlagsprogramm im Kasten, der Druck, den das zweimal im Jahr bedeutet, war weg. Und plötzlich war seine Stimmung so, als wenn ein Ventil aufgegangen wäre.

54 ist er jetzt. Und irgendwas Konkretes in ihm sagt: „Mach es einfacher.“ Dass er noch sehr lange in dieser Intensität mindestens drei Leben parallel leben kann, glaubt er nicht. Aber was soll er machen. Entscheiden kann er sich nicht, will er sich nicht. Was er macht, macht er gern. Stunden ohne seine Jungs sind Zeitverschwendung. Ohne Kunst und Film geht Leben nicht. Und ohne Diogenes auch nicht.

Obwohl das Geschäft mit Literatur nicht einfacher geworden ist. Aber nicht schlimm, sagt er. Es war schon immer schwierig, darüber habe schon sein Vater geklagt. Jetzt mit all den Krisen – Papierkrise, Ukraine-Krise, Corona-Spätfolgen –, in einem Mehrfrontenkrieg um mediale Aufmerksamkeit, ist es das allerdings erst recht. Und es wird auch so bleiben, denkt er, mit diesem merkwürdigen Metier. Aber er hat die Hoffnung auf einen kulturellen Umschlag. Darauf, dass die Menschheit im Banne der elektronischen Ablenkungsgeräte und kurz bevor sie von ihnen zu Tode ermüdet und unterhalten ist, von einer Sehnsucht überfallen wird, nach dem Buch, einem analogen Leben, Ruhe und Einfachheit.

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Und nach schönen Geschichten. Die müssen nicht, sagt Philipp Keel, zwischen zwei Buchdeckeln stecken. Die kriegt man durch die Kultur des Zuhörens, wofür er ein ziemliches Talent hat trotz seiner Ungeduld, seiner Flamboyance. „Jeder“, sagt Keel, „hat das Talent eine Geschichte zu erzählen. Auf dem Land, auf dem Schiff, auf dem Bahnhof. Und wenn Sie einem Menschen zuhören und ihm die Zeit schenken, dass er etwas von sich erzählen darf, haben alle eine wunderbare Geschichte. Das muss zurückkommen.“

Wir sind wieder zurück in der Galerie. Der Kurator mit der grünen Kappe war ziemlich fleißig. Eins stört Keel noch, gesegnet oder verflucht, sagt er, von seinem Präzisionsdrang. Da hängt eine Zeichnung ein bisschen zu tief.

Ein Mann ist auf dem Notizzettel zu sehen. Er trägt eine ziemlich spitzige Krawatte. „Me in ten years.“ steht dabei. Die Zeichnung ist von 2010. Philipp Keel hat sich besser gehalten. Heute war ein guter Tag.

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Author: Jeremiah Abshire

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